Werksgelände Muhlack
6. September 2006
Es gilt das gesprochene Wort!
{Anrede}
zunächst: herzlichen Glückwunsch an die Künstlerin und an den Künstler, Frau Bindzus und Herrn Trülzsch!
Ihr Modell einer Lichtskulptur und Ihr Beleuchtungskonzept haben die Wettbewerbsjury überzeugt. Ende dieses Monats wird Ihre Arbeit im neuen Pariser Parc des Cormailles ausgestellt werden. Ich beglückwünsche auch die Fa. Muhlack, mit der Sie ein innovatives Kieler Unternehmen gefunden haben, das Ihren künstlerischen Entwurf umsetzt und für diese einmalige Arbeit passende Lösungen sucht und findet.
„Die Nacht erhellt die Nacht" / „Noonight - night illoominating night" / „Et la nuit illuminait la nuit" - so lautet der Titel Ihrer Lichtskulptur. Allein die Bezeichnung lässt schon aufhorchen. Das Paradox - „Die Nacht erhellt die Nacht" - konstruiert ein Bild, das in der Realität nicht vorstellbar ist. Das Dunkel der Nacht und die Helligkeit schließen sich aus, und umgekehrt ist die helle, die erhellte Nacht eigentlich nicht mehr dunkel.
Aber genau das ist ja das Geheimnis der Kunst, dass sie uns hinwegträgt über die Grenzen des Machbaren und Realen, des Alltäglichen und Banalen! Hier ist es nicht anders. Diese Kunst überwindet Grenzen, und zwar nicht nur beim Betrachter. Sie überschreitet die Grenzen zwischen Bild und Ton. Die Akustik erzeugt Licht, der Ton bringt die Skulptur zum Leuchten. Es finden also zahlreiche Übersetzungen statt, Transformationen und Transgressionen - rein materielle und technische, aber auch philosophische, emotionale und sinnliche.
Diese Arbeit „Die Nacht erhellt die Nacht" wird nicht statisch sein. Sie ist kein starres Tableau. Prismengleich hat diese Konstruktion aus Stahl und Acrylglas viele Gesichter. Sie entwirft immer wieder neue Bilder - je nach Tages- oder Nachtlicht, je nach akustischen Reizen. Sie reagiert und agiert zugleich. Ein Infraschallsensor nimmt den thermischen Schall auf, ein Schwingungssensor die Umgebungsgeräusche. Der hörbare „Genius loci" wird sichtbar gemacht. Die Komposition erzeugt Lichtsituationen, die wir vom Wetterleuchten, von Blitzen oder vom Nordlicht kennen, das Sie - Frau Bindzus, immer auch mit den Pilgerwegen in Verbindung bringen. Ihre Konstruktion wird also wieder naturgleich oder mindestens naturähnlich.
Selbst in der modernen Stadtmetropole, die nie zur Ruhe kommt, die nie ganz dunkel wird, bleiben die Natur und der Zufall gegenwärtig, und das keineswegs in rückwärtsgewandter, romantisierender Form. Denn diese Sensibilisierung für die im urbanen Raum diskrete, reduzierte und doch selbstverständliche Form geschieht durch eine Plastik, die zunächst eher technisch, industrie-ästhetisch, konstruiert-unsinnlich erscheint. Ihre Raffinesse besteht ohne Zweifel in dem hochmodernen, speziell entwickelten Leuchtkonzept, aber auch in der zugrunde liegenden Philosophie:
an exponierter Stelle des Parc des Cormailles, an einem künstlichen Hügel, dem Belvedere, zu dem ein Spiralweg hochführt. Ich bin zuversichtlich, dass diese Skulptur ein besonderer Anziehungspunkt sein wird, dass sie irritiert, anregt, herausfordert, etwas deutlich macht - und manchmal auch bewusst verundeutlicht und allzu großer Klarheit den Boden entzieht. Das ist es ja, was wir uns von Kunst erwarten und warum wir sie so hoch schätzen. Kaum einer künstlerischen Disziplin gelingt das so nachhaltig und so konsequent wie der Plastik im öffentlichen Raum. Um sie wahrzunehmen, muss man keine Schwelle überwinden: keine Buchhandlung und kein Museum, kein Konzerthaus und keine Galerie. Sie steht im öffentlichen Raum, sie lebt mit der Umgebung und mit den Menschen, die zufällig an ihr vorübergehen. Sie erreicht große öffentliche Präsenz und eine entsprechend hohe Aufmerksamkeit (deshalb bin ich sehr erleichtert, dass diese Landesregierung auch in Zukunft an dem Konzept „Kunst im öffentlichen Raum" festhält!).
{Anrede}
Diese variable Lichtinstallation wird im neu geschaffenen „Parc des Cormailles" im Süden des 13. Pariser Arrondissements stehen - in einem Stadtviertel am linken Seine-Ufer, das seit Jahren schon in einer gewaltigen Umbruchphase ist. Das alte Arbeiterviertel mit ehemaligen Bahn- und Industrienanlagen, mit der einstigen Salpeterfabrik und den alten Mühlen oder dem früheren Elektrizitäts- und Wasserwerk, mit hohem Migrationsanteil und teilweise fast schon ghettoähnlichen closed-shop-Strukturen verändert sich: sozial, architektonisch, infrastrukturell. Es gewinnt an Attraktivität. Es öffnet sich, schafft Räume der Begegnung und des Austauschs. Was vorher im Abseits lag, das rückt jetzt in den Blick. Der Neubau der Bibliothèque nationale de France oder der Umzug der Université Paris VII - Denis Diderot sind nur zwei Aushängeschilder dieses Wandels.
Die Kunst begleitet, kommentiert und gestaltet diese Transformation zugleich - mit einem Kunstkonzept, das fest in der Gegenwart verankert ist. Denn die Arbeit ist alles andere als hermetisch. Sie öffnet sich für das, was an sie herangetragen wird - von der Natur und von den Menschen. Und sie enthält trotz dieser Offenheit - in ganz abstrakter Form - auch viel Geschichte, in sehr umfassender Hinsicht:
Das ist nicht nur die Geschichte des Lichts, die Wissenschaft der Physik, insbesondere der Optik, die Geschichte des Materials und der Statik, sondern auch die Geschichte des Ortes, der Stadt, der Urbanisierung, der früheren Nutzung mit dem Elektrizitätswerk als Energieerzeuger und Energielieferant. Und schließlich ist dieses Kunstkonzept nicht denkbar ohne die Geschichte der Lichtsymbolik: Sie kennen den Beginn der Schöpfungsgeschichte, die Anfangsverse aus dem ersten Buch Mose: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. / Und die Erde war wüst und leer. Und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser. / Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht."
„Per aspera ad astra", „Durch die Nacht zum Licht", heißt es bei Seneca.
Die neuzeitliche Aufklärung hat diese starke Licht-Tradition zum Leitbild gewählt für die Philosophie der Aufklärung, des Fortschritts, der Weiterentwicklung zu einer Gesellschaft in Freiheit, der individuellen Selbstbestimmung und des Selbstbewusstseins (da mutet die Nähe zur neuen Bibliothèque nationale nicht mehr als Zufall an!). „Les Lumières" heißt die Aufklärung im Französischen, auf die Sie mit dieser Arbeit eben auch anspielen - um diese Licht-Blicke zugleich fast subversiv wieder im Dunkeln verglühen zu lassen: „Die Nacht erhellt die Nacht".
{Anrede}
Wer so ein facettenreiches, vielsinniges Konzept entwickelt und umsetzt, braucht viele kongeniale Partner: Sie - Frau Bindzus und Herr Trülzsch - haben sie gefunden: mit der Fa. Klatho und der Fa. Muhlack, mit den Sponsoren, den Firmen Degussa Röhm GmbH und Osram GmbH, mit Herrn Conrad Hansen als Statiker und nicht zuletzt auch mit Marco Bindzus als Vermittler zwischen Kunst und Handwerk (ohne Zweifel eine besonders anspruchsvolle Übersetzer-Aufgabe!).
Ich wünsche Ihnen, dass Ihre faszinierende Licht-Arbeit viele Menschen erreicht. Dass sie immer wieder zum Stehenbleiben, Innehalten und Nachdenken ermuntert. Dass sie als Nordstern-Symbol neue Sichtweisen zwischen Himmel und Erde ermöglicht - und uns mit diesen außergewöhnlichen Licht-Blicken auf die Signatur einer großstädtischen Metropole verweist und damit letztendlich auf das alte Pilgerthema: auf die Reise der Menschen zu sich selbst.